Über Expressgut und Expressgutzüge

05.07.2024 19:35 (zuletzt bearbeitet: 05.07.2024 20:05)
#1 Über Expressgut und Expressgutzüge
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Hallo,

nachdem der Text über den Eilgutverkehr auf einen gewissen Zuspruch gestoßen ist möchte ich heute noch etwas über eine andere, früher prominente, heute aber ziemlich vergessene Beförderungsart, den Expressgutverkehr, erzählen. Konkreter Anlass ist der Thread zur Bad Bärenalb in dem das ja besprochen wird.


1. Expressgutverkehr vs. Postmonopol

Mittlerweile muss man schon deutlich über 30 sein um sich selbst daran zu erinnern dass es in Deutschland mal ein Postmonopol gab. Briefe, Päckchen und Pakete beförderte ausschließlich die Deutsche Bundespost. Stetig und zuverlässig, aber: es dauerte. Ein Postpaket kam bis Anfang der 90er zwar sehr zuverlässig an, war aber im Schnitt wesentlich länger unterwegs als heute, von Nord nach Süd 4-5 Tage waren ganz üblich. Das war für die Post auch OK, mangels Wettbewerbern hatte sie ja keinen großen Druck die Beförderung zu beschleunigen.

Einzig die Deutsche Bundesbahn (und mit ihr die NE-Bahnen) durfte mit dem Expressgutverkehr eine Alternative für eilige Sendungen anbieten – deutlich teurer als das Postpaket, aber auch schneller, auf fast allen Relationen innerhalb Deutschlands im Nachtsprung. Eigentlich war die Expressgutbeförderung ein „Nebenprodukt“ des Reisezugverkehrs das die Infrastruktur der Gepäckbeförderung (ja, gab es auch mal...) mit ausnutzte. Daher zählte Expressgut auch organisatorisch zum Reiseverkehr.

2. Ein Paket von Eystrup nach Landshut

Bewusst habe ich den Expressgutverkehr nur als Kind bis etwa 1990 miterlebt: mein Vater musste damals gelegentlich dringend von einem Kunden benötigte Ersatzteile verschicken, und wenn es zu weit war da eben mit dem Auto hinzufahren wurde das Teil als Expressgut versendet, als Ziel habe ich Landshut im Kopf, da ging mehrmals was hin.

Einige Male war ich dabei. Dann fuhren wir gegen 17.00 Uhr zum Bahnhof Eystrup und brachten das Paket in die Fahrkartenausgabe, damals natürlich noch vom Bundesbahner Herrn Knobloch (der mir später das Kursbuchlesen beibrachte) besetzt. Herr Knobloch nahm unsere Sendung am Gepäckschalter entgehen, blätterte in Büchern, rechnete etwas aus, kassierte und versah das Paket mit einem Aufkleber. Wir blieben natürlich noch und schauten zu wie unser Expressgut zusammen mit einigen anderen Sendungen und wenig Reisegepäck auf die Elektrokarre geladen wurde mit der Herr Knobloch dann auf den Bahnsteig summte.

Richtig, Expressgut gehörte zum Personenverkehr und wurde daher auf kleinen Bahnhöfen wie beschrieben am Gepäckschalter abgefertigt – Güterabfertigung und Stückgutschuppen hatten damit nichts zu tun. Nur große Bahnhöfe hatten besondere Expressgutschalter, und größte Stationen (sagen wir, München Hbf.) hatten besondere Expressguthallen.

3. Expressgut in Reisezügen...

Irgendwann traf dann der Eilzug von Nordeich Mole nach Hannover (Eystrup ab 17.53 Uhr) ein und unser Paket wurde in den Packwagen verladen. Dort nahm es meist der Zugführer entgegen, aber in manchen Zügen fuhr damals noch ein eigener Ladeschaffner mit der alles einlud, verstaute und an den Stationen passend bereitstellte. Übrigens habe ich den Innenraum der Packwagen in den Eilzügen damals (1990?) noch als ziemlich voll in Erinnerung mit Paketen, Koffern, Fahrrädern und Postsäcken.

In Hannover Hbf. (da war ich nicht dabei, aber mein Vater erklärte es mir, und später ergänzte Herr Knobloch die Details) standen bei Ankunft des Eilzuges schon weitere E-Karren bereit, das Paket wurde ausgeladen, durch den „Posttunnel“ auf einen anderen Bahnsteig gebracht und dort in einen Schnellzug Richtung München verladen. Dort wurde nochmals in einen Eilzug umgeladen und morgens Ankunft in Landshut.

Dass das so lief konnte Herr Knobloch mit dem Kursbuch ermitteln: dort waren die Züge die Expressgut befördern verzeichnet, dazu gab es eine Übersicht der Mindestübergangszeiten zwischen zwei Zügen (etwa: 20 Minuten in Hannover), und so konnte Herr Knobloch genau voraussagen mit welchem Zug unsere Sendung am nächsten Morgen in Landshut eintreffen würde – was mein Vater seinem Kunden telefonisch mitteilte damit der rechtzeitig am Bahnhof war. Ich war schwerst beeindruckt!

4. ...aber nicht in allen...

Im Prinzip wurde Expressgut von allen Reisezügen befördert. Manche Züge waren aber explizit ausgeschlossen, etwa bestimmte Nahverkehrszüge im Berufsverkehr mit straffen Fahrzeiten die nicht durch Ladearbeiten verspätet werden durften oder Triebwagen im Einmannbetrieb ohne Zugführer. Die Angabe „oG“ = ohne Gepäckbeförderung im Kursbuch bedeutete zwar auch dass ein Zug kein Reisegepäck beförderte, aber fast noch wichtiger dass er kein Expressgut mitnahm.

Neben der Beeförderung im Gepäckwagen wurden auch besondere Expressgutkurswagen eingesetzt, besonders gerne die vierachsigen MDi-Behelfspackwagen die in diesen Diensten noch bis in die 90er überlebten. Und auf Fernverbindungen im Nachtsprung beförderte die DB das Expressgut (zusammen mit der Post) auch in Schnellgüterzügen (Sg) und besonderen Expressgutzügen (Zuggattung Expr) die dann mit 120 km/h von Hannover nach Nürnberg durch die Nacht polterten – mit Ladehalt am Bahnsteig in Göttingen, Bebra, Fulda und Würzburg. Auch die ersten Eilzüge frühmorgens von Hannover nach Bremen führten gerne mehrere Gepäck-, Post- und Schiebewandwagen im Nachlauf der Züge aus Süddeutschland mit. Auf der Nord-Süd-Strecke waren die nächtlichen Expr Stammleistungen der Baureihen 103 und 120.

In Hannover Hbf. gab es spätabends gegen 22.00 Uhr ein besonderes Spektakel. Zwei Expressgutzüge von Hamburg und Bremen hielten an den Bahnsteigen 9 und 10, weitere Packwagen, Postwagen und schnellaufende Güterwagen wurden dort und an den Stumpfgleisen am Bahnsteigende aufgestellt, und dann waren 40-50 Mann Bahn- und Postpersonal mit dem Umladen beschäftigt bevor die neuformatierten Züge abfuhren.

5. ... und Bussen, Güterzügen, auf Lokführerständen...

Nochmal zurück nach Eystrup: Dort kamen auch die Linienbusse der VGH von Syke, Bruchhausen-Vilsen und Hoya an. Den Schienenpersonenverkehr Eystrup – Syke hatte man 1972 eingestellt, aber die Buslinie fuhr danach noch jahrzehntelang zum Eisenbahntarif (wer das wusste konnte durchgehende Fahrkarten München – Hoya kaufen – wusste aber kaum einer...); folglich beförderten die Busse auch weiterhin Gepäck und Expressgut! Oft habe ich den Bus 17.25 Uhr ab Hoya benutzt: der fuhr erst mal am Bahnhofsgebäude los, hielt dann am Güterschuppen an (Gepäckschalter gab es nicht mehr, daher machte man das dort) und es wurden fleißig Koffer und Expressgut hinten eingeladen. In Eystrup schleppte das der Fahrer dann rüber zur Bundesbahn und übergab die Stücke Herrn Knobloch zur Weiterbeförderung.

Analog gab es auf vielen Nebenstrecken und NE-Bahnen auch nach Ende des Reisezugverkehrs Expressgutbeförderung – in Bussen, in Expressgutkurswagen, im Packwagen des Güterzuges, sogar auf der Lok im Führerstand. Besonders dichten Expressgutverkehr hatte die HzL: Prominent der Expressgutkurswagen Stuttgart - Gammertingen der morgens am Schluss eines Eilzuges (mit 215) von Stuttgart bis Hechingen gelangte, abgehängt wurde und dann mit einem planmäßigen Triebwagen (MAN-Schienenbus) nach Gammertingen weiterfuhr.

6. ... dann immer weniger...

In eine erste Krise geriet der Expressgutverkehr 1979. Mit Schaffung des InterCity-Systems „IC79“ wurden zweiklassige InterCity-Züge im starren Stundentakt angeboten die von der Expressgut- und Gepäckbeförderung strikt ausgenommen wurden. Der große Erfolg von IC79 ging auf Kosten der normalen Tages- und Nachtschnellzüge deren Umfang sich stetig reduzierte, wodurch es noch weniger „expressgutfähige“ Fernreisezüge gab. Um die Beförderung von Gepäck, Post und Expressgut trotzdem zu gewährleisten mussten tagsüber besondere Expressgutzüge gefahren werden die teilweise den IC direkt hinterherfuhren.

Auf der linken Rheinstrecke zwischen Köln und Mainz war das besonders markant: zuerst zwei IC mit 103, fast im Blockabstand hintereinander, kurz danach zwei Expressgutzüge mit 110 oder 111 die „das Gepäck hinterhertrugen“. Der Gepäckverkehr litt auch darunter wenn der Fernreisende dank IC-Zuschlag zwar früh am Ziel ankam, dort aber zwei Stunden später nochmals zum Bahnhof musste um seinen Koffer abzuholen.

Als Ausweichlösung bot man einige Jahre die Beförderungsart „IC-Kuriergut“ an, das waren kleine Sendungen die vom Zugpersonal im Dienstabteil mitgenommen wurden. Dieses kleine und teure Premiumprodukt überlebte bis weit in die DBAG-Zeit.

7. ... und irgendwann gar nicht mehr.

Dann war aber auch bald Schluss. Die ebenfalls expressgutlosen InterRegio- und ICE-Züge vergrößerten das Problem. In der Fläche schlossen immer mehr Fahrkartenausgaben mit Gepäckschalter und damit die Möglichkeit Expressgut abzufertigen. Die DB tat sich so zunehmend schwerer ein flächendeckendes Expressgutangebot aufrecht zu erhalten.

1992 wurde der Gepäck- und Expressgutverkehr aufgegeben. Und als kurz danach das Paketmonopol der Bundespost fiel tauchten quasi über Nacht viele neue Mitspieler wie UPS und Konsorten auf die Pakete deutlich schneller als die Post beförderten die dann (in Form ihrer Tochter DHL) ihren Pakettransport ebenfalls reformieren und beschleunigen musste. Und so bekommen wir unsere Amazonpakete heute selbstverständlich und fast überall über Nacht, ohne dass sich die Eisenbahner dafür anstrengen müssen.

Soweit zum Expressgut. Der Modellbahner kann da – abseits des eigentlichen Güterverkehrs – eine Menge herausholen und insbesondere den Betrieb mit Reisezügen kräftig aufpeppen.

Grüße,
Sebastian


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05.07.2024 20:31 (zuletzt bearbeitet: 05.07.2024 20:37)
#2 RE: Über Expressgut und Expressgutzüge
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Hallo,

eins noch: mich fragte vor ein paar Tagen jemand wo man über all das Informationen herbekommt?

Ich hatte das Glück als Kind und Jugendlicher auf Leute zu treffen die einem so was noch erklären konnten oder einem anderweitig Informationen verschafften. Herr Knobloch aus Eystrup wurde schon erwähnt: er hatte mir Kursbuchlesen beigebracht, ging aber 1994 in Pension. Die DB schloss dann die Fahrkartenausgabe und wandelte sie in eine Reisebüroagentur um wo man weiterhin Fahrkarten kaufen konnte. Die sehr nette Inhaberin tat sich allerdings mit dem Kursbuch sehr schwer, aber nun konnte ich ihr das ja zeigen...

Mit dem Güterverkehr was das schwieriger. Die Eystruper Güterabfertigung war seit 1976 zu. Aber mit 13 Jahren fiel mir dann auf dass die VGH ja in Hoya noch eine Güterabfertigung hatte! Ich fasste mir ein Herz, fuhr mit dem Fahrrad hin und klopfte.

Es öffnete ein mir bisher unbekannter Herr dem ich mein Sprüchlein aufsagte "...Eisenbahnfreund...Modellbahner...Interesse an Güterverkehr... alte Vorschriften?" Er winkte mich herein. Was ich nicht wusste: die VGH hatte die Güterabfertigung gerade geschlossen (wegen Aufgabe des Stückgutverkehrs) und den Güterschuppen an eine Spedition verpachtet. Deren Inhaber stand ich nun gegenüber - der war selber Eisenbahnfreund und aktiver Museumsbahner, später dann einer der Gründer der blau-gelben Mittelweserbahn (was ich damals aber alles nicht wissen konnte) und just an diesem Tag dabei den ganzen alten Güterverkehrs-Vorschriftenkram zu entsorgen. Minutenlang räumte der Regale leer und ich hatte einen enormen Akten- und Papierberg vor mir.

Auf dem Fahrradgepäckträger war das natürlich nicht heimzubringen, und so nötigte ich meine Mutter dort zwei Kofferraumladungen voll Altpapier abzuholen ("Was willst du denn damit?"). Da habe ich dann jahrelang viel drin gelesen und manches erfahren. Und langsam, sehr langsam wurden viele Zusammenhänge klar.

Gelernt habe ich: man muss die "Alten" fragen solange sie da sind. Irgendwann geht das nicht mehr!

Grüße,
Sebastian

P.S.: Falls jemand Auskünfte aus dem Verzeichnis der Güterverkehrstarifpunkte Irak, Syrien und Jordanien von 1977 benötigt, einfach fragen, ist alles da.


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05.07.2024 20:36 (zuletzt bearbeitet: 05.07.2024 20:38)
#3 RE: Über Expressgut und Expressgutzüge
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Hallo Sebastian,

nochmaligen Dank für die Auffrischungen!

Eigentlich wollte ich nur kurz vor dem Schlafengehen...
Jetzt hänge ich doch viel länger vor dem PC und krame in Erinnerungen.
In meinem Fall aus Mettmann und ebenfalls profaner Alltag und aus meinem Notizbuch unterstützt:



Der Kursbuchausschnitt.



Die Notizen zum 19.07.1988



Ein nicht ganz so gutes Bild vom 13.07.1988, aber noch während des Ladegeschäftes.



Und sechs Tage später ist schon eingeladen. ;-)

Beste Grüße zum Wochenende,

Michael, morgen schon wieder auf Tour.


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11.07.2024 10:36
#4 RE: Über Expressgut und Expressgutzüge
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Bei Youtube bin ich gerade auf diesen alten Bundesbahnfilm (ich schätze mal 80er Jahre) gestoßen. Da wird ein Unfall einer Rangierlok mit einem Gepäckkarren analysiert. Und darüber bekommt auch einiges über die betrieblichen Abläufe des Expressgut- und Gepäcktransports mit.

https://youtu.be/3U2E3DUmEXU?si=nyHBmVprA3rXdeFv


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14.12.2024 12:29 (zuletzt bearbeitet: 14.12.2024 12:32)
#5 RE: Über Expressgut und Expressgutzüge
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Hallo,

als kleiner Nachklapp zu der hier und anderswo diskutierten Beförderung von Expressgut in Güterzügen möchte ich noch eine Besonderheit aus meiner alten Heimat für die jetzt Bildbelege auftauchten zeigen.

10 km von zu Hause führte bis 1994 die Allertalbahn entlang, eine DB-Nebenstrecke von Verden (Aller) nach Schwarmstedt die zuletzt nur noch von Verden bis Rethem betrieben wurde (und heute ein Radweg ist). An dieser Strecke ist in Hülsen die Firma Norka, ein Hersteller von Beleuchtungstechnik, ansässig ("Norkaleuchten" sind in der Elektroinstallation eine bekannte Marke). Bis etwa 1990 versendete Norka sehr viel mit der Bahn, sowohl Stückgut in Einzelwagen als auch Expressgut.

Für letzteres stellte die DB werktäglich eine Leigeinheit als Expressgutwagen an der Laderampe des Bahnhofs Hülsen bereit (damals schon DB-seitig unbesetzt und mit stark reduzierten Gleisanlagen) der dann von Norka-Mitarbeitern beladen wurde. Die Verdener V60 holte den Wagen dann mittags mit der Übergabe nach Verden, von dort rollte der Wagen am Schluss eines Nahverkehrszuges nach Bremen Hbf. wo dann umgeladen wurde. Norka durfte den Wagen übrigens in Eigenregie beladen und zwei Mitarbeiter der Versandabteilung machten auch die Frachtberechnung und erstellten die Papiere, was dann vom Bahnhof Verden stichprobenartig nachkontrolliert wurde.

Selber habe ich das nicht erlebt, aber ein Eystruper DB-Mitarbeiter hatte das berichtet. Jetzt habe ich bei DSO tatsächlich entsprechende Fotos aus den 70er und 80er Jahren entdeckt die den Wagen in Hülsen zeigen: https://www.drehscheibe-online.de/foren/...9311644,9311862 Die Bilderserie von 1981 ist übrigens von Herrn Knobloch, dem letzten "Bundesbahner" in der Eystruper Fahrkartenausgabe.

Für den Modellbahnbetrieb kann man mitnehmen: auch auf sehr kleinen Stationen kann, einen entsprechenden Großkunden vorausgesetzt, nennenswerter Expressgutverkehr stattfinden der auch den Einsatz spezieller Kurswagen in eigenen Umläufen rechtfertigt, und das bis zum Ende der Expressgutbeförderung (1992).

Grüße,
Sebastian


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14.12.2024 13:04 (zuletzt bearbeitet: 14.12.2024 13:21)
#6 RE: Über Expressgut und Expressgutzüge
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Hallo,

noch ein interessantes Detail von der Allertalbahn das zwar nichts mit Expressgut zu tun hat aber einen Einblick gibt was für abseitige Aspekte manchmal einen Einfluss auf die Frage "Zugmelde- oder Zugleitbetrieb" haben.

Der wichtigste Bahnhof an der Strecke war jener der Kleinstadt Rethem. Auch nach Aufgabe des Personenverkehrs wurde die Strecke weiter im Zugmeldeverfahren betrieben, und Rethem war weiter mit einem Fahrdienstleiter besetzt (die "kleinen" Bahnhöfe wie Westen, Hülsen oder Eilte hatte man in Anschlussstellen umgewandelt). Planmäßig kamen da nur zwei Übergabepaare am Tag, die hatten aber kräftig zu tun, vor allem im Güterverkehr für die Firma Toschi (Bauelemente aus Asbest, böse Lungenkrankheiten für die Mitarbeiter inklusive), für die Landwirtschaft, Norka in Hülsen und so weiter. Der Rethemer Fdl kümmerte sich um das Zugmeldeverfahren Richtung Verden (und den Zugleitbetrieb Richtung Schwarmstedt, da war aber auf dem Abschnitt Rethem-Gilten praktisch kein Verkehr), bediente das Stellwerk (mechanisches Stellwerk auf dem Bahnsteig) und managte die Güterabfertigung für die gesamte Strecke. Fahrkartenausgabe und Gepäckabfertigung gab es auch weiterhin (trotz Bahnbuspersonenverkehr).

Dieser Posten war eigentlich nicht attraktiv - Besoldung "nur" A6, langer Tagesdienst mit mehrstündiger Unterbrechung am Nachmittag, Dienst nur Montag bis Freitag ohne Gelegenheit Zuschläge für Nächte oder Wochenenden zu verdienen. Der Job wurde viele Jahre von einem Bundesbahner im Ein-Mann-Dienstplan besetzt; der wohnte im Ort, konnte in der Pause was anderes machen (Landwirtschaft im Nebenerwerb) und war wohl ganz zufrieden. Bei Urlaub oder Krankheit kamen Vertreter aus Eystrup oder Dörverden.

Als der Mann um Ende der 1970er in Ruhestand ging gelang es der DB aber jahrelang nicht einen Nachfolger für diesen unattraktiven Job zu finden: es gab schlicht keinen Bewerber! Einfach jemanden gegen seinen Willen dauerhaft dahin versetzen ging auch nicht, da hätte der Personalrat nicht mitgemacht. Übergangsweise machten die Eystruper und Dörverdener A8-Fahrdienstleiter (die kassierten "Entfernungsgeld", fluchten aber trotzdem) Dienst in Rethem bis die BD Hannover dann irgendwann ein Einsehen hatte. Der Posten wurde gestrichen, die Strecke auf Zugleitbetrieb umgestellt (Fdl Verden als Zugleiter) und die Aufgaben der Güterabfertigung gingen auf den Bahnhof Verden über, was wohl ziemlich Umstände machte.

Also: manchmal waren es ganz menschliche Gründe die darüber entscheiden welches Betriebsverfahren auf einer Strecke angewendet wurde.

Grüße,
Sebastian


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