Perlen vor die Säue?

23.01.2009 23:32 (zuletzt bearbeitet: 27.11.2014 13:16)
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#1 Perlen vor die Säue?
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OOK

Mit dem Ausdruck „Perlen vor die Säue werfen“ meint man, dass Wertvolles in die Hände von Menschen gerät, die dafür zu dumm, zu ungeschickt oder einfach nicht interessiert sind. Werfen wir die Frage, ob das hier vorgestellte Buch in diese Rubrik fällt, am Schluss auf.

Ich stöbere nicht mehr so häufig in Buchhandlungen wie früher, es gibt eine gewisse Sättigung, teilweise sogar Überdruss. Gerade Modellbahnbücher, die ich im normalen oder Bahnhofsbuchhandel durchblätterte, waren selten in der Lage, mir mehr als ein Schulterzucken abzuringen. Deshalb war ich sehr überrascht, beim Stöbern ausgerechnet in einer Weltbild-Buchhandlung ein Modellbahnbuch zu finden, das mich ansprach.



Da Titel wie „Die schönsten Anlagen“ etc. lange vergeben sind, wurde dieses reißerisch „Das Superbuch der Modellbahn-Anlagen“ getauft. Da bin ich schon kritisch und blättere mit langen Fingern. Das klingt doch sehr nach billigem Mainstream.

Tja, und dann haut mich gleich die erste vorgestellte Anlage aus den Socken! Zunächst sind es zwei Fotos, die mich „anmachen“: ein halbseitiges, das nur ein Stück Landschaft, eine zweigleisige Strecke mit Güterzug und einen Bahnübergang zeigt und ein hochformatig-ganzseitiges, das die ausgedehnten Gleisanlagen eines großen Bahnhofes mit vier Bahnsteiggleisen zeigt. Na und? Alle Anlagenbücher sind voll mit solchen Bildern.
Aber nicht solchen! Es gibt ein paar winzige Zeichen, dass dies eine H0-Modellbahn ist und keine Vorbildaufnahme. Es sieht aber aus wie ein eingefrorener Moment aus den Sechzigern, eine bestimmte Sekunde im Leben des Bahnhofes Pirmasens Nord, den die Eisenbahnfreunde Lengerich als Vorbild gewählt haben. Auf dem stumpfen Gleis 1 dämmert ein Triebwagen mit VB der Abfahrtszeit entgegen, auf Gleis zwei ist ein langer Personenzug eingelaufen, der für die Rückfahrt – Pirmasens Nord ist ein Kopfbahnhof - gerade eine neue Lok bekommt. Der TEE-Triebzug auf Gleis 3 dürfte sich wohl eher ausnahmsweise hierher verirrt haben. Auf dem Stummel zwischen den Gleisen 3 und vier steht ein Postwagen, der auf Beistellung wartet und auf Gleis 5 brummt eine V60 mit einer Rangiergruppe vorbei. Abstellgleise im Hintergrund sind teilweise gefüllt, es bleiben genügend freie Gleise für allfällige Rangierfahrten.

Ich merke gerade, dass es mir nicht gelingen will, das Besondere diese Situation rüber zu bringen. Es stimmt einfach alles. Es gibt zahllose Details, Mensch und Autos, aber von allem nicht ein Exemplar mehr als in der Realität, eine Enthaltsamkeit, die wenige Modellbahner beherrschen. Keine Gags, keine „Hingucker“, keine Unfälle und keine Katastrophen. Das hat man in Lengerich nicht nötig.

Es handelt sich also um eine Clubanlage. Und Clubanlagen sind meist Sammelsurien, auf denen die vielen unterschiedlichen Geschmäcker der Mitglieder berücksichtigt werden müssen: ein manchmal schauriger Mix von Epochen, Traktionsarten, Landschaften und Szenarien. Nichts davon auf dieser Anlage der EF Lengerich. Hier hat man sich auf ein klar umgrenztes Thema verständigen können, hier gibt es eine Konzeption.
Und dann noch die über jede Kritik erhabene Qualität des Modellbaus, wunderbar. Ich sehe Perfektion.
Und dennoch bin ich kritisch. Wird dieses Buch, das übrigens nur knapp einen Zehner kostet, die Erwartungen befriedigen können, die mit diesem Paukenschlag geweckt worden sind? Es kann. Locker! Gleich ein paar Seiten weiter kommt der nächste Paukenschlag, die Anlage Ottbergen/Bad Driburg, die in modellbahnersicher Qualität der epochegerechten Umsetzung mit der Lengericher Anlage mithält, alles ein paar Dimensionen größer.

Und diesmal hat’s mich erwischt. Das Bild auf Seite 29 unten habe ich doch für eine Vorbildaufnahme gehalten. Irrtum. Die weitschweifige Kurve der zweigleisigen Strecke, auf der sich gerade zwei Güterzüge begegnen, ist so genial in eine weite Hügellandschaft eingebettet, dass das eigentlich nicht Modellbahn sein kann – und doch ist.

Nach diesen Großanlagen erhebt sich die Frage, ob denn nicht auch etwas Kleineres dabei ist, dass wir Normalverbraucher auch machen könnten. Aber sicher doch. Ein déjà-vu-Erlebnis ist die ca. 4,2 x 3,5m messende L-förmige Anlage von Rolf Stumpp, die schon in einem frühen schwarzweiß gedruckten Anlagenbuch des Alba-Verlages gezeigt wurde. Es ist eine selektive Komprimierung der Strecke Murnau – Oberammergau, wobei die Hauptstrecke München – Garmisch, an der Murnau liegt, mit einem Stück Paradestrecke und einem Schattenbahnhof vertreten ist. Die eingleisige Oberammergauer Strecke endet wie das Vorbild in einem Kopfbahnhof. Eine klare und überzeugende Konzeption.

Die Anlage ist ein Musterbeispiel für das Thema „Identität“. Neben den Stationsnamen, die die geografische Situierung sofort ermöglichen, sind es die Fahrzeuge – ich sage nur E 69 – und die Gebäude. So eine typische oberbayerische Häuserzeile wie auf dieser Anlage habe ich noch nicht gesehen.

Es gibt aber nicht nur H0 in diesem Buch, sondern beispielsweise auch 0e, vertreten durch die kleine sächsische Eckanlage von Andreas Irmscher, die wir in Ladbergen und anderswo gesehen und bewundert haben. Und es gibt LGB, besser gesagt IIm. Schrecksekunde. Dreiviertel der Anlagen im Maßstab 1:22,5, die ich gesehen habe, waren hübsch, nett, niedlich und ein bisschen kitschig. Irgendwie reizt dieser Puppenstubenmaßstab dazu, modellbahnerische Grunderkenntnisse zu vergessen und alles nicht so genau zu nehmen.
Und dann kommt diese „Kellerbahn“ von Peter Denzel, die all dies Lügen straft. Auf unglaublichen 5 x 3,8m, auf denen viele nicht mal eine gescheite H0-Anlage hinkriegen, hat er eine Anlage mit Kopfbahnhof, Strecke und Schattenbahnhof realisiert, die nicht nur durch die klare Konzeption, sondern auch durch ihre ausgewogene, absolut un-niedliche und un-kitschige Gestaltung überzeugt. Perfekt gefärbte und geschotterte Gleise, teilweise selbstgebaute Fahrzeuge und eine dichte, aber unaufdringliche Detaillierung bringen eine realistische Wirkung zustande. Einen weiteren Punkt der realistischen Wirkung habe ich erst nach längerem Schauen und Meditieren herausgefunden: die Gebäude. Fast immer sind die Gebäude auf 1:22,5-Anlagen stark bis sehr stark verniedlicht. Das hat Peter Denzel dadurch vermieden, dass er sich passende kleine Vorbilder für seine Gebäude gesucht hat. Die brauchte er nicht kleiner zu machen, als sie sind. Und das wirkt kolossal!

Ich könnte noch eine Weile weiter schwärmen über dieses Buch, denn da sind noch viel mehr Perlen drin. Aber die Redaktion hat noch zu einem ganz krassen Trick gegriffen, um die Qualität der meisten Anlagen deutlich zu machen: sie hat zehn Seiten für den absoluten Gegenpol geopfert. Wo finden wir das Hermannsdenkmal (sehr realistisch übrigens), ein großes Kloster mit Klosterkirche und im lieblichen Schwarzwaldtal der Welt größte Kuckucksuhr? Wo den Hamburger Michel, eine Riesenfeuerwache und ein Zuckerbäcker-Rathaus? Na klar. Im Hamburger Hafen im Miniatur-Wunderland. Hier wird dem mainstreamigen Publikumsgeschmack ein Zugeständnis gemacht, fast schon eine devote Verbeugung, aber wer Augen hat zu sehen und sich nicht pervertieren lässt, kann gerade in diesem Buch den direkten Vergleich zwischen Realismus und Kitsch studieren.
Und das für lumpige zehn Euro. Ich fasse es nicht. Das führt uns zur angekündigten Gretchenfrage: Perlen vor die Säue? Meinetwegen. Dafür lassen wir uns doch gern von der Miba-Redaktion – die hat übrigens das Billig-Buch zusammengestellt – zur Sau machen.
Leute, holt euch dieses „Super“-Buch. Es trägt diesen Titel nämlich zu Recht.
OOK.

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Heute schon in den ADJ-Blog geschaut?
https://www.jaffas-moba-shop.de/anlagen-design-journal/

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25.04.2009 12:55 (zuletzt bearbeitet: 25.04.2009 12:57)
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#2 RE: Perlen vor die Säue?
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ow
Zitat von OOK
.....Hier wird dem mainstreamigen Publikumsgeschmack ......
OOK.

Ist damit durchschnittlich /allgemeiner Publik... gemeint? Dieser Ausdruck wird im MAD sehr oft verwendet.
Mein Englisch ist mehr als dürftig (durch jahrzehntelanger Nichtgebrauch fast nicht mehr vorhanden)
Gleich am Dienstag schau ich bei Weltbild ob das Buch noch zu haben ist.
Danke Otto (ow)
Anfang der Gebirgsbahn https://www.youtube.com/watch?v=_UfgkCJtONs
Aufbau der Gebirgsbahn https://www.youtube.com/watch?v=-aCUMpnSguw
Rangieren auf der Gebirgsbahn https://www.youtube.com/watch?v=sxZ2RnF8Y-Y
Die Basis-Schublade der Gebirgsbahn https://www.youtube.com/watch?v=WHI4u3BtUX4
Digital oder Analog auf der Gebirgsbahn https://www.youtube.com/watch?v=PrACJYEXupA
Mehr Platz durch eine Wendung https://www.youtube.com/watch?v=zpx9q1KcoLs
Wendel mit Trapez und Leitplanke https://www.youtube.com/watch?v=MTh8Y3XgHug

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25.04.2009 13:06
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#3 RE: Perlen vor die Säue?
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OOK

Zitat von ow
Zitat von OOK
.....Hier wird dem mainstreamigen Publikumsgeschmack ......
OOK.

Ist damit durchschnittlich /allgemeiner Publik... gemeint?

Ja, das, was 80 - 90% aller "Modellbahner" machen.

OOK
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