Anschlussbedienung - damals in Lausanne

06.07.2014 00:11 (zuletzt bearbeitet: 06.07.2014 00:33)
#1 Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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Huberts Beitrag zum Anschluss Luhns mit Drehscheibe hat mich darauf gebracht, dass ich da etwas entfernt Vergleichbares kennengelernt habe, das ich euch nicht vorenthalten möchte. Ich hoffe, es passt hier her. Es funktionierte mit Drehscheiben und Schiebebühnen, Seilbahnen und Spills...

I.
Lausanne liegt am Genfer See quasi in einer Hanglage, mit dem Hauptbahnhof ca. 70 m oberhalb des Sees. In den 1870ern wurde im Stadtteil Flon ca. 40 m oberhalb des Hauptbahnhofs ein Industriegebiet erschlossen. Um sich nicht mit vielspännigen Fuhrwerken den Berg hinauf bemühen zu müssen, wurde eine Standseilbahn, die Lausanne-Gare (LG) angelegt. Sie begann am Bahnhofsvorplatz. Vom Ortsgüterbahnhof aus wurden mit elektrischen Rangiertraktoren die Güterwagen zur regelspurigen LG überstellt, dort ins Streckengleis gedreht und dem einzigen Standseilbahnwagen - es handelte sich um eine Windenbahn - vorgestellt. Der drückte die Wagen hinauf zur Bergstation in Flon. Dort wartete ein „chariot transbordeur“. Das war eine Kombination aus einem weiteren, breitspurigen Rangiertraktor mit eingebauter Spillanlage, gekuppelt mit einer Schiebebühne. Der Traktor zog mit seinem elektrischen Spill den ankommenden Güterwagen auf die Bühne und verfuhr ihn auf einer gut 330m langen, ebenen Strecke, an der sich beiderseits die Industriegrundstücke erstreckten. Am jeweiligen Zielanschluss angekommen wurden die transportierten Güterwagen mit dem Spill des Traktors in das jeweilige Anschluss-Strahlengleis rangiert.
Bei abgehenden Wagen lief das Ganze natürlich umgedreht ab.

Doch damit nicht genug...

II.
Parallel zur LG verlief die ebenfalls regelspurige Standseilbahn Lausanne-Ouchy (LO). Diese verband Flon mit Ouchy am Ufer des Genfer Sees, mit zwei Zwischenstationen. Und sie diente ebenfalls neben dem Personen- auch dem Gütertransport. Güterwagen wurden in der Bergstation Flon mittels „chariot transbordeur“ von der LG „rübergeschoben“, bergseitig an den LO-Zug gestellt und nach Ouchy gefahren. Dort wurde der Güterwagen mittels der eben überfahrenen Schiebebühne vom Streckengleis geschubst, im Nebengleis von einem elektrischen Rangiertraktor übernommen und dann zum Hafen oder den Anschließern, darunter ein Gaswerk, überstellt. Und vice versa.

Aber damit immer noch nicht genug...

III.
An der Bergstation, dem Bahnhof Flon war immer noch ein deutlicher Höhenunterschied zur Hauptstraße, der Route de Bel-Air zu überwinden. Oben auf der Hauptstraße verkehrten zudem die Lausanner Straßenbahn und die Schmalspurbahn Lausanne-Echallens-Bercher. Daher baute man einen Güterbahnhofsgebäude, dessen Dach auf dem Niveau der Hauptstraße lag. In dem Gebäude befand sich ein Waggonaufzug, sodass Wagen vom Güterbahnhof Flon auf den auf dem Dach befindlichen Ladeplatz gehievt werden konnten. Von der Straße aus verlegte dorthin auch die Lausanne-Echallens-Bercher-Bahn ein Ladegleis, sodass dort ein Umladen zwischen Regel und Schmalspur möglich war. (Ich weiß aber nicht, ob das tatsächlich intendiert war und stattfand.)

IV.
Im Gegensatz zur LO entwickelte sich der Güterverkehr der LG nach Flon offenbar so gut, dass die Wagenzustellung per altmodischer ;-) Standseilbahn nicht mehr opportun erschien. Stattdessen wurde 1953 eine Anschlussbahn entlang der Rue de Genève vom Güterbahnhof Sébeillon nach Flon gebaut, die ganz normal mit SBB-Rangiertraktoren bedient wurde. Aber diese „kam falsch an“. Denn der „chariot transbordeur“ wurde weiterhin für die Zustellung im Industriegebiet verwendet, und alle ankommenden und abgehenden Wagen mussten auf engem Raum um 90 Grad gedreht werden. Es wurde also ein kleiner Übergabebahnhof erstellt und an dessen Ende eine gebrauchte Lokdrehscheibe eingebaut. Ein Rangiertraktor zog einen Güterwagen von der Übergabe ab auf die Drehscheibe, die ganze Fuhre wurde gedreht, der Traktor drückte den Wagen vor zum „chariot transbordeur“ und die Zustellung zum Anschließer erfolgte wieder wie unter I. beschrieben.

Selten hat mich eine Vorbildsituation - oder sollte ich sagen: eine glückliche Verkettung mehrerer Vorbildsituationen? - so begeistert wie diese.


Links:

Das Industriegebiet Flon ist trotz Stadtumbaus heute noch gut erkennbar; der „Voie du Chariot“ ist die ehemalige Fahrbahn des „chariot transbordeur“. In den Gassen rechtwinklig nach norden und Süden abgehenden Gassen lagen die Strahlengleise der Anschließer. Der seit 1953 bestehende Übergabebahnhof lag im Nordosten des Gebiets entlang der Rue de Genève, die lange Drehscheibe in etwa auf Höhe des Kreisverkehrs.
→ der chariot transbordeur, im Einsatz mit einem Güterwagen.
→ ein Paradebild des chariot transbordeur ohne Fracht.
→ Hier der Traktor der LO auf der 1953 eingebauten langen Drehscheibe am Ende der Anschlussbahn von Sébeillon
→ Die ersten Beiträge in diesem Forumsthread enthalten Gleispläne und interessantes Bildmaterial, unter anderem Bilder des unter III. beschriebenen Güterbahnhofs Bel-Air.
→ Eine schöne Aufnahme des Übergabebahnhofs; unter dem Dach ein LO-Traktor, hinten schemenhaft noch die Drehscheibe erkennbar.
→ noch mehr Bilder aus Flon

Irgendwo im Netz gab es ein Video der Operation Übergabebahnhof-lange Drehscheibe-chariot transbordeur, finde ich aber leider nicht mehr...


Einen schönen Sonntag wünscht
Mathias


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06.07.2014 05:44
avatar  OOK
#2 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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OOK

Das muss man (ich) sich ja dreimal durchlesen, ehe man die Zusammenhänge kapiert. Auf jeden Fall eine ganz heiße Sache und ein tolles Motiv für eine Regalanlage ohne Strecke.
Warum hat der chariot transbordeur zwei Stromabnehmer. Zwei Stromsysteme?

OOK
Heute schon in den ADJ-Blog geschaut?
https://www.jaffas-moba-shop.de/anlagen-design-journal/

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06.07.2014 12:03
#3 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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Hallo Otto,

seit 1908 hatte der chariot einen elektrischen Fahr- und einen elektrischen Spillantrieb. Die Leitungen führten 600V Gleichstrom. Warum es zwei sind, oder ob es sich um zwei Pole handelt, kann ich nicht sagen. Vielleicht kann jemand mit entsprechenden Französisch-Kenntnissen eine Erklärung im Netz finden?

Beste Grüße, Mathias


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06.07.2014 12:49
avatar  Helko
#4 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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die "Italiener" hatten doch früher auch 2 Fahrdrähte, vermutlich also verschiedene "Pole"!

VG
Helko
Videobeispiele

Gutes Design ist, wenn nichts mehr entfernt werden kann. Beispiel gefällig?
Der "."!

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06.07.2014 13:20
avatar  OOK
#5 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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OOK

Zitat von Helko im Beitrag #4
die "Italiener" hatten doch früher auch 2 Fahrdrähte, vermutlich also verschiedene "Pole"!
Ja klar, hab nicht genau hingeguckt, die zwei Bügel sind ja nicht hinter- sondern nebeneinander. Das deutet auf eine bipolare Drehstromfahrleitung hin wie einst in Italien. Auf dem Bild sehe ich allerdings keine solche Fahrleitung.

OOK
Heute schon in den ADJ-Blog geschaut?
https://www.jaffas-moba-shop.de/anlagen-design-journal/

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21.06.2021 13:24
#6 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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Gestern sind mir noch zwei Bilder aus Flon über den Weg gelaufen.
Ich setze sie mal dazu, da einige von Mathias' Links inzwischen kaputt sind.

Traktor Te 1/2 152 auf der Drehscheibe in Flon:
https://www.flickr.com/photos/fototak/67...57627445789256/

Und noch ein Bild von der Schiebebühne:
https://www.flickr.com/photos/fototak/69...57627445789256/

Gruß
Alex


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17.10.2021 13:33
#7 RE: Anschlussbedienung - damals in Lausanne
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Hallo zusammen

Bezüglich den zwei Fahrdrähten kann ich euch mit etwas Fachwissen beliefern.

Drehstrom (3-Pol-Antriebstechnik)
Drehstrom ist immer 3-phasig. Es arbeiten 3-Phasen mit einem Versatz von je 120 Grad mit dem sie um den 0 Punkt die Polarisierung +/- der Nennspannung wechseln. So funktionieren heute noch die meisten stärkeren Motoren im 50Hz Stromnetz (Haushaltsstromnetz). Als Beispiel kann eine Güllepumpe oder eine grosse Tischkreissäge genannt werden.
Wer sich das noch nicht ganz vorstellen kann, findet in Wikipedia eine gute Grundlagenerklärung Wiki - Dreiphasenwechselstrom
Die Technik wurde in den Pionierzeiten auch bei der Fahrleitung erprobt. Auch hierzu gibt es einen guten Wiki Artikel Drehstromfahrleitung

Gemeinsam haben diese Fahrleitungen alle, dass sie mit 3-Polen gebaut wurden. Das heisst, diese Fahrleitungen hatten 3 Fahrdrähte welche elektrisch voneinander isoliert waren.

2-Pol Antriebstechnik
Grundsätzlich kann man vereinfacht sagen, dass alle heutigen Fahrleitungen auch diejenigen die nur einen Fahrdraht haben heute eine 2-polige Antriebstechnik haben. Bedeutet die Elektrizität brauch immer einen hin und einen Rückleiter.

2-Pol Antriebstechnik Wechselstrombahnen
Bei der "normalen" Bahn wird der rückleitende Strompfad auf Erdpotential gelegt und die Rückleitung erfolgt über die Schiene. Dies bedeutet, dass die Fahrleitungsspannung je nach Stromnetz (Bsp SBB) ihre Spannung innert 1 Sek 16,7 mal die Spannung von + 15'000 Volt auf -15'000 Volt wechselt und so jeweils die Fliessrichtung der Elektronen wechselt. Die Spannung auf dem Gleis bliebt dabei immer bei ca. 0 Volt.

2-Pol Antriebstechnik Gleichstrombahnen
Bei Gleichstrombahnen wechselt die Polarisierung der Fahrleitung nicht. Bedeutet 1-Pol hat immer die Funktion des Pluspols und 1-Pol die Funktion des Minuspols. Nun könnte man sich denken: "dann legen wir doch den Minus Pol einfach auf Erdpotential. Bedeutet der Rückleiter hat Spannung 0 zum Erdpotential und der Hinleiter Spannung +600Volt zum Erdpotential. So kann man die Schiene als Rückleiter benutzen." Jedoch taucht hier plötzlich ein weiteres Problem auf: Die Elektrokorrosion durch Streuströme. Wenn an mehreren Orten ein Verbindung zum Erdreich erstellt wird, wird der Strom nebst dem eigentlichen Rückleitungspfad (Schiene) sich parallel dazu auch Wege durch das Erdreich suchen. An Stellen wo nun metalerne Objekt eine Verbindung zum Erdreich machen, entsteht dort bei Gleichstrom eine Elektrokorrosion, da das Erdreich als Elektrolytlösung dient. Durch diesen Effekt sind Bauwerke in der Nähe von Gleichstromanlagen stark von Korrosion gefährdet. Es müssen deshalb Massnahmen getroffen werden, dass der Rückstrom niemals durch das Bauwerk oder Erdreich fliessen kann. Gleichstrombahnen wie die Forchbahn, der RBS oder die meisten Trame, welche die Schienen als Rückleiter benutzen isolieren hierzu ihre Schienen komplett gegen alle Bauwerke und das Erdreich. Wenn jedoch die zu erwartenden Betriebsströme und Spannungsabfälle gering genug sind, dass es reicht einen separaten Leiter als Rückleiter aufzuhängen, kann es die wirtschaftlichere Lösung sein, einfach einen Rückleiter neben dem Hinleiter als Fahrleitung aufzuhängen und mit einem zweiten Stromabnehmer abzugreifen. So entstehen dann die 2-poligen Fahrleitungen.

Im Falle von Trolleybussen bleibt auch gar keine andere Variante, da die Schiene als möglicher Rückleitungspfad schon gar nicht vorhanden ist. Trolleybusnetze müssen aber durch diese Situation eine sehr engmaschige Einspeisung haben. Die im Vergleich zur Schiene relativ kleinen Querschnitte der Rückleitungen erzeugen einen hohen Spannungsabfall, welcher irgendwie kompensiert werden muss.

Im Falle des genannten Thema Lausanne, kann ich mir gut vorstellen, dass damals die Lösung mit dem Rückleiter als zweiter Fahrdraht die wirtschaftlichste Lösung war. Das Streckennetz war kurz. Das heisst es sind nur geringe Spannungsabfälle zu berücksichtigen. Die benötigte Leistung war ebenfalls eher klein.


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17.10.2021 17:58
avatar  Gilpin
#8 Anschlussbedienung: Traktor mit einem Stromabnehmer
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Hoj zäme (wenn ich das sagen darf),

hier bei Deutsche schimpfen online (dort weiter surfen) gab es einen weiteren Traktor mit nur einem Stromabnehmer. Der mit den zweien dürfte also wirklich einen Drehstrommotor gehabt haben!

Ich hatte schon lange vor, zum 11.11. 11 Uhr 11 einen Beitrag zu Rangieren auf der Standseilbahn zu schreiben - köstlich, dass es so etwas gibt. Muss ich mir eben eine neue Blödelei ausdenken.

Ich wünsche eine schöne Woche,
Reiner


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17.10.2021 18:29
#9 RE: Anschlussbedienung: Traktor mit einem Stromabnehmer
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Hallo Reiner,

und das letzte Bild des DSO-Beitrages zeigt eine Weiche, die auf einer Drehscheibe beginnt. Dürfte auch relativ selten sein.

Gruß von Ruhr und Nette
Hans


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20.10.2021 12:56 (zuletzt bearbeitet: 20.10.2021 22:22)
avatar  Gilpin
#10 Nochmal zwei Stromabnehmer
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Hi alle Drehstrominteressierten,

tief in meinem Gedächtnis und anschließend im Rechner fand ich ein weiteres Beispiel für zwei Oberleitungen bzw. Stromabnehmer:



Das Bild stammt offensichtlich aus Lissabon. Aber in der Mitte der Strecke gibt es eine Ausweiche und entsprechend aufwändige Oberleitungen und Tragwerke. Ich muss aber danach noch weiter graben!

All das hat mit dem Drehstrom wohl nichts zu tun - die parallelen Stromabnehmer haben es mir aber angetan!

Mit freundlichem Gruß,
Reiner


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20.10.2021 13:58 (zuletzt bearbeitet: 20.10.2021 22:27)
avatar  epo2
#11 RE: Nochmal zwei Stromabnehmer
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Hallo Reiner,

nach Wikipedia fährt die Straßenbahn Lissabon mit 600V Gleichspannung. Auf dem Foto ist ein Wagen der Standseilbahn (oder auch Kabelbahn gennant) zu sehen. Auch diese drei Linien werden mit 600V aus dem Netz der Straßenbahn gespeist.

Bei zwei Linien erfolgt der Antrieb über die Räder. Das Seil dient nur zum Lastausgleich zwischen berg- und talfahrenden Wagen. Die dritte Linie wird über das Seil gezogen.

Zwei Stromabnehmer sind hier für Hin- und Rückleitung des Stroms zuständig. So wird der Rückfluß über die Schienen verhindert, wie ja schon in Beitrag #7 von Alain beschrieben wurde.

LG
Ralf

Langsam kommen wir in das Alter, wo man ... hier, Dingens.

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